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Kirchen-Gemeinde im Internet:
Willkommen in der Kirche

 Thema Gottesbild

Inhalt

   Die Vielfalt der religiösen Bilder und Vorstellungen als Wegbegleitung durch das Lebe
   (von Monika Liebich)

Ausgangsperspektive - Eingangsfragen  (Wirklichkeit)
1. Wohnung finden, Identität haben durch Bilder und Vorstellungen (der Weg nach innen)
         (Subjekt-Objekt Beziehung | Identität | Mythos, Magie und Märchen | Objekte der Identifikation
         Ego und Seele | der Name | Rumpelstielzchen | Name bei Gott)
2. Die konkrete, polare Sichtweise (der Weg nach außen) Baum der Erkenntnis
         2a - Identitätsfixierung (allein selig machend | religiöse Konzepte | Verabsolutierung | Kirche)
         2b - Die Sprache  (Urworte | Dualitäten | Mystiker)
3. Paradoxie (Gott als Rätsel | leben mit der Paradoxie
         3a - Ent-täuschung ( Begegnung mit Gott | wahre Identität | Zweifel)
         3b - Martin Luther (Existenzkrise | Erlösung | Gott ist kein Objekt)
4. Befreiung von - Befreiung durch Bilder 
         (Lebenshilfe | semitisch-orientalisches Denken | dualisierte Gottesbild | geschichtliches Handeln
         | biblisches Bilderverbot | relative Wahrheit | Hören auf Gott)
5. Die fünf Weltreligionen und ihre polare Sichtweise 
         (Christentum-alleinige Wahrheit | Weltbild | Hinduismus | Buddhismus | Konfuzianismus 
         | Wert der Religion | Toleranz | Ethik der Bergpredigt | Islam) 
6. Rückblickende Betrachtungen (Begrenztheit | Jesus | Toleranz | Widerspruch Gut-Böse)

          Literatur

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    Ausgangsperspektive - Eingangsfragen

"In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen"(Joh.l4,2)

Die Ausgangsperspektive meiner Arbeit entspringt meiner bisherigen Lebenserfahrung, wonach letztlich keine Vorstellung über "Gott und die Welt", kein Gottesbild, kein Menschenbild, keine Methode besteht, die nicht im Sturm des Lebens irgendwann an Grenzen kommt, wo Tragfähigkeit und/oder Nutzen zumindest in Frage gestellt sind, der umfassende Erklärungsanspruch bezüglich Wirklichkeit fragwürdig geworden ist.

Dies muss in der konkreten Situation nicht immer an der Begrenztheit, der mangelnden Universalität der Vorstellung, des Bildes liegen. Es kann auch schlicht sein, dass meine eigenen Kenntnisse über den bedeutungsmäßigen Umfang der jeweiligen Ein-Bildung unzureichend, bzw. meine Deutungen zu einseitig sind. Diese Überlegungen werden besonders brisant im Blickwinkel auf religiöse Vorstellungen, Bilder und Methoden, denn sie behaupten ja in besonderem Maße, Lebenshilfe zu sein, ja, Leben im eigentlichen Sinne überhaupt erst zu ermöglichen, über das irdische Dasein obendrein hinauszuweisen, mit einem Wort, existentiell zu sein.

Die meisten Religionen erheben dabei den Anspruch, ganz oder teilweise absolute Wahrheiten zu formulieren und/oder zu verkünden. Zu untersuchen, wie dieser Absolutheitsanspruch zustande kommt und wie sich die vielen, angeblich absoluten Wahrheiten zueinander verhalten, soll in dieser Arbeit an einigen Beispielen diskutiert werden.

Fragestellungen, die mich insbesondere zu dem Thema veranlassten, waren dabei folgende:

1.  Warum gibt es so eine Vielfalt von Bildern und Vorstellungen über "das Heilige", die sich in gegensätzlichen Religionssystemen niederschlägt? Ist die umfassende Wahrheit nicht formulierbar, nicht greifbar, nicht darstellbar?

2.  Verstoßen die vielen Bilder gegen die berechtigte Warnung des Judentums, des Islam, "Gott" in Bildern begrenzen zu wollen? Sind alle Bilder und Vor-Stellungen also grundsätzlich abzulehnen?

3.  Wie kommt es zu der gegenseitigen zwischenmenschlichen "Zerfleischung" der verschiedensten Art bezüglich DER Wahrheit, paradoxerweise an glaubensmäßig besonders engagierten Menschen so häufig zu erleben? Warum diffamieren sich die Kontrahenten persönlich, bleiben also nicht auf der Sachebene?

4.  Wie objektiv ist für den einzelnen die Sachebene seiner Bilder und Vorstellungen?

5.  Gibt es so etwas wie einen Entwicklungsprozess der Bilder und Vorstellungen "im Kopf", wenn ja, ist er allgemein, überindividuell formulierbar?

6.  Die Krise des eigenen Vorstellungsvermögens, die Paradoxie, lässt sich nicht "austricksen", d.h. man kann sich nicht im voraus auf diese Krise einstellen. Was bewirkt die Krise bezüglich Wahrheitsfindung, bezüglich "Gottsuche"?

7.  Wie verhält sich die Toleranz, die Akzeptanz der Religionen untereinander zu ihren Bildern und Vorstellungen?

Wirklichkeit, ein Wort, das der mittelalterlichen Mystik entstammt (werkelichkeit, L.Frambach "Identität und Befreiung", s.371), kann nur im Sinne der Mystik eine ungeteilte sein und wird in dieser Arbeit gleichgesetzt werden mit Einflußsphäre der göttlichen Wirklichkeit. Einen Wirklichkeitsbereich anzunehmen, der sich dem göttlichen Einfluß entzieht, ist vom religiösen Standpunkt aus, der das Göttliche mit dem Absoluten, also auch mit dessen Einflußnahme gleichsetzt, unsinnig.

Ich werde daher das Wort "Realität", das lt. etymologischen DTV-Wörterbuch u.a. das Dingliche, Sachliche bezeichnet, vermeiden. Das Dingliche, Sachliche meint nicht das Absolute, Umfassende. Somit ist der Begriff für meine, überwiegend religiöse Argumentation ungeeignet, unzureichend.


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  1. Wohnung finden, Identität haben durch Bilder und Vorstellungen

(der Weg nach innen)

Die Bilder und Vorstellungen, die sich der Mensch über die Wirklichkeit macht, sind "seins", sind seine Wohnung in der er sich zu Hause wähnt. An sie wird er gewöhnt, ihn dieser Bilder und Vorstellungen gegebenenfalls zu entwöhnen wird schwer sein.

Sie sind nötig, um ihm Heimat im Diesseits, in seinem Umfeld zu geben, ihm diese Wirklichkeit konkret lebendig werden zu lassen, und zwar so eng, dass er zunächst glaubt, Wirklichkeit und Vorstellung seien eins. Sie konstituieren sein Ich, das was er für seine vollständige Identität hält. Es gibt keine Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen ihm und seiner Vorstellung.

Dies in Erinnerung zu behalten, ist relevant, da in der (inter)religiösen Diskussion immer wieder die Illusion begegnet, eine naturwissenschaftliche Haltung einnehmen zu können: hier der Mensch, dort seine Vorstellungen, beliebig austauschbar eben wie bei einer Subjekt-Objekt-Beziehung . Der Mensch wählt also seine Vorstellungen nicht "sachlich"-distanziert aus, sondern die Bilder und Vorstellungen werden seine Wohnung, konstituieren sein Ich, die ihm "Leben" gegeben haben, die für ihn im Laufe seiner Biographie positiv besetzt waren. Negative Erfahrungen, z.B. Sanktionen, können zur Ablehnung bestimmter Vorstellungen führen, sogar zu Angstauslösern werden, auf religiösem Gebiet nicht so selten anzutreffen.

Es kommt sozusagen zu einer Werte-Identifizierung, wobei "Werte" hier biographisch-subjektiv zu verstehen ist. Wie es aber zu dieser Ausschließlichkeit einer Vorstellung kommt, warum er seine Werte so schwer und unter welchen Gegebenheiten überhaupt wechselt, wird noch zu überlegen sein. Zu beobachten ist ein Absolutheitsanspruch in den Vorstellungen sowohl beim einzelnen als auch bei Gruppen, wie sie Religionsgemeinschaften darstellen.

Der Absolutheitsanspruch macht die Bilder und Vorstellungen nicht mehr nur zu einer Hilfe für das eigene Leben, sondern zu DER angenommenen, alleinigen Wahrheit, nun dazu gebraucht, um sie anderen als Hilfe zu zeigen, besser noch, zu beweisen, und wehe, wenn sie diese Hilfe ablehnen! Dann haben sie eben im harmlosesten Falle das "Wahre", das Absolute noch nicht erkannt.


Bilder, Vorstellungen, die eigene Person gehören also zusammen. Wenn sie objektiv, d.h. mental zugänglich werden, sind sie hinterfragbar und damit auch gegebenenfalls korrigierbar geworden.Die Identifizierung mit Vorstellungen, die unbewußte, ist quasi der Spiegel, in dem man sein Selbst, seine Identität (wieder) zu finden, zu erkennen glaubt.

Der Vergleich der Identität mit dem Spiegel, der den physischen Körper wiedergibt, liegt auf der Hand, da sie nur indirekt über die Identifizierung gesehen wird. Der Spiegel begegnet in Träumen, in denen es um Identitätsprobleme geht, ebenso wie in der Mythologie. In ihm kann die Lösung des Problems zeichenhaft verborgen liegen. Die magische Macht des Medusenhauptes beispielsweise, jedes Wesen zu Stein werden zu lassen, das es anschaut, ist nur durch den indirekten Blick in den Spiegel zu brechen.

Hier verweist der Mythos auf das mentale Bewußtsein, die Fähigkeit zur Distanz, zur Reflexion, die etwas Gutes und Unverzichtbares ist, um mit magischen Mächten und "Verhexungen", Relikten aus der (Menschheits-) Kindheit, umzugehen und fertig zu werden. Die Magie nämlich lebt von der unbewußten Identifikation. Die Reflexion, die ja Abgrenzung zum Betrachtungsgegenstand bewirkt, ist ihr Todfeind, entmachtet sie.

Ein Märchenbeispiel: Die kleine Gretel wartet ganz "cool" ab, bis ihre Stunde zur Befreiung ihres Bruders Hänsel geschlagen hat, der von der Hexe gebraten und verschlungen werden soll. Ihrer mentalen Strategie und ihrer trickreichen Behauptung, sie wisse nicht, wie sie in den Ofen hinein käme, ist die Hexe, die sie ansonsten leicht durch ihre magische Macht in der Gewalt hat, nicht gewachsen. So spiegeln Mythen und Märchen Menschheitserfahrungen über Magie und das erwachende mentale Bewußtsein wieder,

Die Identifikation mit bestimmten, gerade auch emotional besetzten Inhalten und Vorstellungen ist das, was schließlich und endlich zur Identität einer Person wird, wobei die erlangte Identität nicht als irgendwann abgeschlossen angesehen werden kann, sondern

"... die Objekte der Identifikation sind alle von mujo , von Unbeständigkeit und Vergänglichkeit geprägt. Das gilt auch und gerade für unser fundamentalstes Identifikations-Objekt, unseren Leib...Das Ich versucht, seine vordergründige Identität ständig abzusichern und auszubauen durch mehr Identifikations-Objekte, durch mehr Besitz, mehr Bildung, mehr Macht, mehr Einfluß usw.

Statt die grundsätzliche Gefährdung in der Weise seiner Konstituierung zu sehen, also in der Qualität, flüchtet es in die Existenzabsicherung durch Quantität, wird habgierig. Es stellt egozentrisch alles auf sich zu, versucht möglichst viele und wertvolle, d.h. vermeintlich beständige und sichere Identifikations-Objekte zu haben und steht dadurch in einer prinzipiellen Konkurrenz zu anderen jeweiligen Identifikations-Konkurrenten, dem Ich der anderen" (Frambach, Identität und Befreiung, s.l50ff.).

Der Inhalt des IdentifikationsObjektes ist dabei nicht vorrangig. Ergänzend sei noch angemerkt, dass im Zen und im Buddhismus, wovon bei Frambach hier die Rede ist, ein wesentlicher Unterschied gemacht wird zwischen "Ich", meist mit "Ego" zu übersetzen und dem "Selbst", christlich annähernd zu bezeichnen mit der "Seele, wie Gott sie gemeint hat."

Zitiert sei in diesem Zusammenhang auch Theresa von Avila, die erklärte, es sei leichter, den dreieinigen Gott zu erkennen als die eigene Seele. Hier kann sie nur das eigentliche Selbst, losgelöst von allen vordergründigen Rollen und Identifikationen, gemeint haben. soweit also die Entstehung der ichbezogenen Identität, die eine brüchige, und in jedem Falle vorläufige ist.

Unter "Identifikation" findet sich im Brockhaus folgende Erklärung: "Das unreflektierte Sich-hineinversetzen in..." bedeutet, eben nicht mit Hilfe von intellektueller Distanz. Bewußtheit im Sinne von Reflexion und Identifikation sind hier Gegensätze. Eine sinngemäß ähnliche Definition findet sich im DTV-Wörterbuch Psychologie. Identifikation ist also zunächst ein unrefelktierter Vorgang.


Die Ambivalenz von Identität sei noch etwas am Beispiel des Namens erläutert. Der Name (Gottes, der Menschen, der Dinge) ist der Träger der Identität schlechthin. Man vergegenwärtige sich entsprechende Redensarten: Das Kind beim Namen nennen, im Namen des Volkes, im Namen Jesu, sich einen Namen machen (wollten die Erbauer des Turms von Babel, heißt es in l.Mose 11,4); namhaft = nennenswert.

Erinnert sei an die Identifizierung der Person, die durch die Kenntnis des Namens möglich wird in dem Grimmschen Märchen "Rumpelstielzchen". Die ehemalige Müllerstochter, die Königin, befreit sich schließlich von der Macht des zaubrischen Männchens, indem sie seinen Namen herausfindet. Das Männchen zerstört sich daraufhin selbst, was wohl heißt, dass es durch die Namensfindung (s. das Kind beim Namen nennen!) seine magische Macht verloren hat und sich quasi in Luft auflöst.

In der Oper "Tristan und Isolde" von R.Wagner zeigt sich die erwachte Liebe der Titelträger nach Einnahme des Liebestranks in der wechselseitigen Namensnennung des anderen, was gleichsam die völlig neue Wahrnehmung des anderen durch die Liebe offenbart.

"Wenn Gott den Namen Abrams (Gen. l7,5), Sarais (Gen. I7,15) und Jakobs (Gen. 32,29) ändert, so wird darin ausgedrückt, dass Gott ihre Person mit Beschlag belegt. Auch Saulus erhält nach seiner Bekehrung einen neuen Namen, eine neue Identität, die ihm von Gott her zukommt" (P.Biel, "Symbole geben zu lernen II", s.275).

Wer einen Namen bei Gott hat, ist be-deutend, ohne über seine Be-Deutung selbst zu verfügen, darüber zu bestimmen. So unterscheidet sich Identifikation, das Sich-selbst-einen-Namen-geben im Falle Babylons von der Identität, die Gott verleiht. "Und weil Jesus gehorsam ward..., hat Gott ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist.Phil. 2,10" (Calwer:"Namengebung")

"Der Name ist nach antiker Auffassung Kennzeichnung seines Trägers, die sein Wesen und zugleich die Weite seines Einflußbereiches kundtut...Darum genügt es dem antiken Menschen nicht, nur um die Existenz einer Gottheit zu wissen, er will auch ihren Namen kennen" (Calwer: "Name Gottes").
Mose wird am Dornbusch auf seine Frage nach dem Namen Gottes kein, mit einem geschichtlichen Ereignis verbundener Name geoffenbart, sondern eine prinzipielle, zeitlich nicht fixierbare Identität: JHWH, ich bin, der ich bin und sein werde. Oder auch: Ich bin (für euch) da. Im Namen Gottes bedeutet nun: im Vertrauen auf Gott.

Wichtig ist für die Entstehung von Beziehung (hier Gott-Mensch) offensichtlich die Kenntnis des Namens, wobei Identität und gottgegebener Name auch tatsächlich zusammenfallen: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!" (Jes. 43,1). Hier ist die Namenwahl der Vorläufigkeit durch Familienzugehörigkeit bzw. der Willkür durch die Eltern enthoben. Er bezeichnet nicht das, was im Ausweis steht, sondern das wahre Selbst, dessen Identität allein Gott bekannt ist. Jesus sagte zu seinen Jüngern:"Freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgezeichnet sind" (Luk. 10,20) Die Identität, die sich in dieser Art von Namen äußert, überdauert,die irdische Existenz.


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     2.  Die konkrete, polare Sichtweise
               oder die prinzipielle menschliche Unfähigkeit, Wirklichkeit total zu erfassen

(der Weg nach außen)

Die Ambivalenz im Umgang mit Identität über die Identifizierung wurde bereits am Begriff des Namens deutlich. Wo er konkret Greifbares bezeichnen will, besitzmäßig vom Ego mißbraucht wird, bezeichnet er Vorläufiges und ist zeitlich begrenzt.

Dasselbe lässt sich über das konkrete Erfassen, Beschreiben von Wirklichkeit aussagen. In der Konkretion liegt die Begrenzung und damit die Vorläufigkeit. Bei den Mystikern, z.B.bei dem evangelischen Jakob Böhme, findet sich der Satz, in Gott fallen alle Gegensätze zusammen. Gott ist das Absolute jenseits aller Polarität. "Und alles Relative ist nur Polarisation (Selbstentzweiung aus Überschwang) des Absoluten" (Friedlaender, zitiert bei Frambach, a.a.O., s.45).

Die Erkenntnis von Gut und Böse, die Erkenntnis der Gegensätze war das, wovor nach Martin Buber Gott die Menschen bewahren wollte durch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. "Gott kennt die Gegensätze des Seins, die seinem Schöpfungsakt entstammen, er umfängt sie, von ihnen unberührt, er ist, wie ihnen unbedingt überlegen, so mit ihnen unbedingt vertraut, er geht mit ihnen unmittelbar um (das ist offenbar die ursprüngliche Bedeutung des hebräischen Verbs "erkennen": in unmittelbarem Kontakt stehen), und zwar eben als mit den gegensätzlichen Polen des Weltseins. Denn als solche hat er sie...erschaffen...

Wesensverschiedener Art ist die vom Menschen durch das Essen der Wunderfrucht erworbene "Erkenntnis". Ein überlegen-vertrautes Umfangen der Gegensätze ist dem trotz seiner Ebenbildlichkeit nur am Geschöpftum, nicht an der Schöpfung Beteiligten, dem nur zu zeugen und zu gebären, nicht zu schaffen Befähigten versagt. Gut und Böse, die Ja-Lage und die Nein-Lage des Daseins, treten in sein lebendiges Wissen ein; aber nie können sie ihm miteinander gegenwärtig werden" (M.Buber: Bilder von Gut und Böse, s.l7ff.).

Soweit Martin Buber zum Verhältnis menschlichen Erkennens innerhalb der Polarität im Unterschied zum göttlichen "Darüberstehen". Im Ringen darum, die beiden Pole von Wirklichkeit gegenwärtig werden zu lassen, reden die Mystiker in paradox anmutenden Formulierungen wie "das helle Dunkel, der sanfte Sturm", mit denen sie versuchen, ihre ganzheitlichen, umfassenden Erfahrungen des Heiligen, Transzendentalen zu beschreiben.


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     2a - Die polare Sichtweise und die Identitätsfixierung

Der übliche, beobachtbare Weg der Identifikation ist der, sich auf einen Pol von Wirklichkeit zu konzentrieren und diese Fixierung, diese Identifikation für "allein selig machend", für umfassend zu halten, worin eben die Beschränktheit besteht. Konkretion bedeutet Polarisation. Hier beantwortet sich die Eingangsfrage über die gegenseitige "Zerfleischung". Sie entsteht zunächst im Innern durch den leidenschaftlichen Irrtum, in der Zeit bereits im Besitz der umfassenden Wahrheit zu sein, ein für allemal. Die Entscheidung zu irgendeiner Form von gewaltmäßiger "Überredung" ist dann nur noch eine Abschätzung der (moralischen) Möglichkeiten, eine Folge der inneren Haltung.

Zum Thema Polarität und Wirklichkeit zitiert Frambach den Theologen Karl Heim:"Es gibt nirgends, weder in der Wirklichkeit noch in unseren Gedanken etwas, das durch sich selbst ist, was es ist. Alles, was wir wahrnehmen und vorstellen können, ist sowohl in seinem Dasein wie in seinem Sosein, also in seiner quantitativen und qualitativen Beschaffenheit, dadurch bedingt und bestimmt, dass etwas anderes da ist, das ihm als Gegenpol gegenübersteht" (Frambach, a.a.O., s.302).
Es wird noch zu unterscheiden sein zwischen Reden in möglichst vielen Bildern, um wichtige spirituelle Erfahrungen neu einzu-bilden, vor Augen zu führen, deut-bar werden zu lassen in dem Bewußtsein, mit diesen guten und praktikablen Versuchen nur Annäherungen an letztlich Unsagbares, das sich der polaren Beschreibung entzieht, zu erreichen und andererseits dem, was Frambach Identitäts-Fixierungen nennt. Ich habe einen Beruf, eine Familie, Erfolg, Besitz usw., aber ich bin nicht nur davon erfasst, es ist nur ein Teil von mir, ein Teil, der im Laufe des Lebens an Bedeutung gewinnen, aber auch verlieren kann. Der wirklich "lebende" Wert dieser Anteile meiner Identität wird sich in der Krise, beim In-Frage-gestellt-sein, herausstellen.

Man vergegenwärtige sich den lutherischen Text aus dem Kirchenlied "Ein feste Burg ist unser Gott": "Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben's kein Gewinn!" Dieser zunächst möglicherweise Gleichgültigkeit oder Grausamkeit assoziierende Text zielt zweifellos auf die Vorläufigkeit von noch so wertvollen Identifikationen gegenüber dem eigentlichen Selbst ab.
"Jedes religiöse und spirituelle Konzept, so richtig und wertvoll es sein mag, kann zu einem vordergründigen "Objekt" der Identifikation werden, an dem man fixierend haftet. Es wird dann gleichsam zum spirituellen Besitz, den man sicher hat, nicht mehr hergeben will und auf den man sich etwas "einbildet" (Frambach, a.a.O., s.148).
In diesem Kontext bedeutet "einbilden" offensichtlich etwas Negatives, Illusionistisches, so wie wir dieses Wort in der Alltagssprache meist verwenden. "Die Identitäts-Fixierung ist immer verbunden mit einer eingeschränkten, verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wenn wir uns mit einem bestimmten Identifikations-Objekt, z.B.Nationalität, Bildung oder sozialem Status, fixierend identifizieren, so werden andere Aspekte der Wirklichkeit ausgeschlossen und eine bestimmte Perspektive festgelegt.
"..Das Problematische bei den Identifikationen besteht nicht darin, dass wir uns überhaupt mit etwas identifizieren. Im Gegenteil. Wir müssen uns als soziale menschliche Wesen in einem bestimmten Maße, z.B. mit speziellen sozialen Gruppen, mit der Familie, mit einer religiösen oder politischen Gemeinschaft usw. identifizieren, um ein befriedigendes und fruchtbares soziales Leben zu führen. Die Unfreiheit besteht darin, dass wir diese Identifikationen absolut setzen, das heißt, dass wir auf sie fixiert sind und sie zur bestimmenden Mitte unserer Identität machen. Im relativen Sinne sind sie notwendig und sinnvoll, absolut gesetzt, werden sie zu "Einbildungen"" (Frambach, a.a.O., s.148ff.).
Nochmals festgehalten sei: Identifikationen, Bildentwürfe und Vorstellungen über (religiöse) Werte sind notwendige und wichtige Prozesse der Identitätsbildung, um zu greifbaren, lebendigen Vorstellungen darüber zu kommen, was einem wichtig und von Bedeutung ist.

Die Gefahr liegt in der Verabsolutierung von konkreten Formulierungen als alleiniger Möglichkeit der Sichtweise und darin, Wahrheit als abgegrenzten Besitz in der jeweiligen Konkretion zu betrachten. Die Verabsolutierung geschieht aus den bereits beschriebenen Gründen unbewußt, man ist gleichsam gefangen ihr, solange sie unbewußt bleibt. Der Vorteil der Konkretion ist zugleich ihr Problem, eben die Abgrenzung gegen alle anderen möglichen Konkretionen von Wirklichkeit. Dem Sündenfall der polaren Sichtweise ist nur durch Bewußtwerdung der Unfreiheit, der Versklavung zu entkommen und sich im nächsten Schritt die Relativierung aller sprachlichen Festlegungen, aller "ewigen", konkret formulierten Dogmen zu vergegenwärtigen. Allerdings scheint diese Bewußtwerdung im konkreten Fall ein Gnadenakt Gottes zu sein, wie wir noch am Gegenstand der zum Teil absurd anmutenden gegenseitigen Kritik der Religionen untereinander sehen werden.

Aus dem bisher Gesagten ist nun nicht zu dem verkürzten Ergebnis zu kommen, dass es keine ewige Wahrheit gäbe, denn jegliche Weiterentwicklung ist der Weg auf sie zu. Es heißt nur, dass sie, letztlich Gott sei Dank, dem einzelnen und/oder der Gruppe nicht besitzmäßig zur Verfügung steht, um das eigene Ego damit zu bestätigen, um sie anderen als allein richtig unter die Nase zu halten, kurzum, um Abgrenzung und Macht zu praktizieren.

DIE Wahrheit bleibt allein "in Gottes Hand", sie ist, nach Frambach und anderen, der indifferente Grund, der sich der polaren Sichtweise entzieht. Die Konkretion spiegelt Wahrheitsaspekte wieder, die im günstigsten Fall nicht falsch, aber in ihrer polaren Festlegung eben nicht umfassend, unvollständig, somit offen sind.

"Kirche" als Institution wäre dann lediglich, hauptsächlich die Gemeinschaft der immer weiter Suchenden, derer, die auf dem Weg sind, ohne dass die obersten "Hüter" dieser Institution Besitzträger von Wahrheit sind. Ob diese Aussage zu wenig ist, kann an dieser Stelle nicht erschöpfend diskutiert werden. Im übrigen muss aus dem Bewußtsein der eigenen beständigen Begrenztheit, vor allem in Bezug auf das Heilige, nicht nur Ohn-Machtsgefühl resultieren, sondern die Bereitschaft zur beständigen Offenheit, zur Ent-Täuschung wird Entwicklungmöglichkeiten beschleunigen.

Hier begegnet die Paradoxie, dass die Erkenntnis der eigenen Begrenzung entgrenzt. Dennoch, um diese Begrenztheit zumindest eigenen Denkens zu erkennen, muss diese Möglichkeit, der Wirklichkeit auf den Grund zu kommen, wirklich "ausgereizt" worden sein. "Im spirituellen Befreiungsprozess geht es primär nicht um biographisch bedingte Entwicklungsstörungen, wenngleich diese immer eine gewisse Rolle spielen können und tatsächlich spielen. Der spirituelle Befreiungsprozess hat es mit einer existentiellen Problematik zu tun, mit der auch eine, im Idealfall psychisch völlig gesunde Persönlichkeit konfrontiert ist.

"...Psychotherapie will, vereinfacht ausgedrückt, die Entwicklung einer gesunden, d.h. stabilen und flexiblen Ich-Struktur ermöglichen. Spiritualität hingegen will...das Ich überwinden, oder genauer, die egozentrische Position des Ich, das sich absolut setzt, relativieren. Beides ist für die menschliche Reifung wichtig: Ohne eine Ich-Struktur, die einigermaßen vollständig ausgebildet und gefestigt ist, kann auch kein Ich relativiert werden" (Frambach, a.a.O., s.285ff.).
Was in Bezug auf das Denken vorher ausgesagt wurde, nämlich dass die Begrenzung erkannt werden muss, erläutert Frambach nachfolgend in Bezug auf die Ego-Struktur: was nicht da ist, kann nicht relativiert werden.



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     2b - Die polare Sichtweise und die Sprache

In besonders augenfälliger Weise spiegelt die Sprache die polare Sichtweise des mentalen Bewußtseins wieder, die in der dualen Sichtweise ihr entwicklungsmäßiges Ende finden wird und schon findet.

Es gibt noch Urworte, deren polare Bedeutung erst je nach Erfordernis des Kontextes in Erscheinung tritt, z.B.kann "Boden" sowohl das Oberste als auch das Unterste im Haus bezeichnen. "Einst" bedeutet sowohl fernste Vergangenheit als auch fernste Zukunft (Frambach, a.a.O., s.308). Das lateinische Wort "sacer" kann sowohl "heilig" als auch "verflucht" bedeuten. Hier sei auf Mircea Eliades Untersuchungen hingewiesen, wonach das Verfluchte in bestimmten Kulturen zum Heiligen wird ("Die Religionen und das Heilige").

Bestimmte (geistige) Behinderungen werden als Inkarnation des Heiligen angesehen. Man erinnere sich an bestimmte Diskussionen sowohl im AT als auch im NT darüber, ob bestimmte Krankheiten als "Strafe Gottes" anzusehen seien oder zu seiner Verherrlichung dienten. Kaum eine unserer heutigen großen Religionen wird das "Verfluchte" neben dem "Heiligen" dulden wollen. Man denke nur daran, wie lange es dauerte, bis das verfluchte Kreuz sich als heiliges Symbol im Christentum durchsetzen konnte. Die naturwissenschaftliche Sichtweise hat allerdings Interpretationen dieser Art weitgehend "abgeschafft". Aussagen, wonach Christus für uns zum Fluch geworden sei (Paulus), können als heutzutage unverständlich angesehen werden.

Polaritäten können sich also zu Dualitäten entwickeln die sich gegenseitig anscheinend ausschließen. Eins vom anderen gedanklich zu trennen, das ist der Preis, den der Mensch zahlt für die Möglichkeit der Subjekt-Objekt-Beziehung, die reflektierende, distanzierende Sichtweise, für die Unterscheidung von "Gut und "Böse".

"Denken heißt unterscheiden oder, wie Walther Rathenau es ausgedrückt hat: Denken heißt vergleichen...Das Wesentliche ist, dass das unterscheidende Erkennen nach dem Prinzip des Gegensatzes, der Polarität funktioniert" (Frambach, a.a.O., s.320). Über das Urwort sagt der gleiche Autor: "Im Symbol des einen Wortes ist der eine indifferente Grund repräsentiert, der der Differenzierung in zwei polare Vordergrund/Hintergrund Phänomene zugrunde liegt. Es kann jeweils nur eine Bedeutung...in den Vordergrund treten. Die andere, gegensätzliche tritt dabei in den Hintergrund zurück" (a.a.O., s.308).
Bemerkenswerterweise sind ziemlich viele Mystiker Sprachkünstler gewesen. "Meister Eckhart gilt als einer der Begründer der deutschen Sprache. Mechthild von Magdeburg schuf als erste eine Volkssprache für die Frömmigkeit, Hadewijch und Ruusbroec gehörten zu den Großen der niederländischen literarischen Tradition, genauso wie Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz dies für die spanische waren" (Bruno Borchert"Mystik", s.16). Offenbar befähigt das Ringen um den "indifferenten Grund" in besonderer Weise zum Umgang mit Konkreten Bedeutungen.


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     3.  Die Paradoxie oder das Ende der polaren Sichtweise

Wenn also das polare Denken konsequenterweise im dualen Denken endet, ist die begriffliche Logik in der Sackgasse der Paradoxie angekommen. Der eine gedachte Wahrheitsaspekt schließt den anderen aus. Es gilt nicht mehr: sowohl als auch, wie bei der polaren Sichtweise, nur eben nicht gleichzeitig, sondern: entweder-oder. Die Wirk-lichkeit, und damit letztlich Gott, ist zum un-begreiflichen Rätsel geworden.

Die Erfahrung der Krise des bisher Gedachten kann eine kollektive sein wie die des babylonischen Exils im AT oder die Parusie-Verzögerung im NT: Es ist offensichtlich (von Gott) anders (gedacht), als WIR gedacht haben. Dann wird eine Neuformulierung von Theologie nötig. Es kann sich auch, in unserer heutigen Gesellschaft häufiger, um individuelle Krisensituationen handeln.

Das Problem ist wiederum durch polare Identitätsfixierung, einseitige Konkretion entstanden. Paulus und Martin Luther sind zu verschiedenen Zeiten zu ganz ähnlichen Erkenntnissen, Entgrenzungen gekommen, nämlich dass die Erlösung zu Gott hin nicht aus dem Gesetz, nicht aus den eigenen frommen Werken erwächst, sondern "sola fide", allein aus dem Glauben.

Allerdings frage ich mich, ob wir nicht mit Hilfe Luthers in der evangelischen Kirche den einen polaren Aspekt gegen den anderen eingetauscht haben. Weil wir ja angeblich alle so erlöst sind, durch die Taufe quasi magisch gelöst, braucht anschließend nur noch ethisches Handeln, also Moral gepredigt zu werden, was offensichtlich z.Zt. wenige Menschen für ihr Leben ausreichend und tragfähig finden, soweit sie überhaupt bei spirituellen Fragen angekommen sind.

Wie also leben mit der vorprogrammierten, "betriebsbedingten" Paradoxie?

"Es muss so gearbeitet werden, als hinge alles vom Menschen, nichts von Gott ab, und so auf Gott vertraut werden, als hinge alles von Gott, nichts vom Menschen ab" (Ignatius von Loyola zugeschrieben, Frambach, a.a.O., s.384).

Nicht jeder wird diese wiederum widersprüchliche Antwort hilfreich finden. Sie kann es nur in der konkreten Situation werden.



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     3a - Die Relativierung aller Methoden, Bilder und Vorstellungen
                 durch die Ent-Täuschung

Methoden gehören zum vordergründig Konkreten und sind daher ebenfalls prinzipiell relativ. Das heißt wieder nicht, dass wir ohne Methoden auskommen, so wie wir nicht ohne Bilder und Vorstellungen auskommen.

"Befreiung durch eine Methode ist darum immer auch Befreiung von der Methode...im Bereich christlicher Spiritualität (haben wir) einen offensichtlichen Mangel an Methode, an angeleiteten Übungswegen...Wir brauchen ganzheitliche, spirituelle Übungswege, die Körper, Seele und Geist umfassen und in ihrer wechselseitigen Durchdringung und Dynamik verstehen" (Frambach, a.a.O., s.387).
So soll der einzelne, wohl dadurch, dass er der verkopften Einseitigkeit enthoben ist, schließlich die Begrenztheit seiner Identitätsfixierung, die er vermeintlich für seine unerschütterliche Mitte hielt, erkennen.
"Die Identität wird geweitet und befreit, indem Gegensätze vereint werden, oder anders ausgedrückt, indem widersprüchliche, sich ausschließende Dualitäten in flexible, versöhnende Polaritäten gewandelt werden" (Frambach, a.a.O., s.389).
Das Problem, wie Paradoxie sich auflösen kann, ist hier m.E. von Frambach verharmlosend dargestellt und in seiner Zuspitzung absolut "unterbelichtet" gesehen. Beispielsweise ist die Aufforderung zur Opferung des Isaak, die Vorgeschichte zum l.Bund, das Ende der Vorstellungskraft Abrahams bezüglich Segensverheißung, bezüglich Zukunft. Es ist das Gericht bezüglich einer eventuellen Identitätsfixierung Isaak, eine Prüfung, die Abraham besteht, wie wir wissen. Unbegrenzt ist sein Vertrauen in die Lösung des Unlösbaren durch Gott. Es gibt keine vorstellbaren versöhnenden Polaritäten! Das Gleiche läßt sich aussagen über die Erneuerung des Bundes, das Kreuzgeschehen, als größtmöglich vorstellbarem Gegensatz zu allem, was sich damals mit Heil verband.

In der Begegnung mit Gott wird Gericht und Heil eins, ohne dass aus menschlicher Perspektive von flexibler Polarität gesprochen werden kann. Der Mensch kann von sich aus nicht aus seiner Sichtweise im konkreten Fal1 aussteigen, auch wenn er seine Begrenztheit erkennt. Wem sich Gott naht, der wird geläutert, der wird gerichtet (brennender Dornbusch!). "Gott ist ein versehrendes Feuer, das brennt, aber nicht verbrennt"(Erich Zenger).

"Verbrannt" wird die falsche Mitte, die Identitätsfixierung, die begrenzte Identität. Die Begegnung mit Gott weitet, befreit durch den Schmerz hindurch. Die subjektive Stärke des Gerichts entspricht dem Stärkegrad der Fixierung. Über die Befreiung aus der eigenen Paradoxie, die Einung der vermeintlichen Dualität läßt sich dasselbe aussagen wie über die umfassende Wahrheit: sie bleibt "in Gottes Hand" und ist nicht vom Menschen machbar.

Wenn wir auf die Eingangsfrage bezüglich Entwicklungsprozess von Bildern und Vorstellungen, also quasi der Identitätssuche zurückschauen, so lässt sich über Identität trotzdem folgendes aussagen: die wahre, unbegrenzte Identität entsteht aus dem Vereinen von Gegensätzen, während Gott uns von vorn herein überpolar, aus menschlicher Perspektive ambivalent begegnet.

"Gott ist nicht ein DU, das einem Subjekt ICH im Sinne einer Subjekt/Objekt-Relation gegenübersteht. Er transzendiert in seiner Überpolarität (Hein) auch jegliche polare Ich-Du-Relation und ist in einer intellektuell letztlich nicht fassbaren Weise als "Gott Du unser Ich" (Kuhlmann) anzusprechen. Gott ist der "Ganz-Andere", aber nur in dem Sinne, dass er der Nicht-Andere (Nikolaus von Kues) ist" (Frambach, a.a.O., s.382).
Eine Haltung der Offenheit bezüglich Identität und Theoriebildung lässt sich an Jesus ablesen, denn er ist frei von Identitätsfixierugen, frei von Theorien ganz der konkreten Situation hingegeben, daher u.a. seine Konflikte mit Theoretikern, die ihre Theorie im Kopf für wichtiger aIs die Situation halten. So wird der wahre Mensch zum Spiegel des Göttlichen.

Was das biblische Bilderverbot anbetrifft, so ist es als ein Absolut-Setzungs-Verbot anzusehen, denn Gott ist u.a. immer mehr als jedes Bild. Die Wirklichkeit ist nur im Spiegel zu sehen und nur in Teilaspekten durch Konkretion denkbar, vorstellbar. Das gleiche Bilderverbot ließe sich auch über die menschliche Identität verhängen, wiewohl sie sich über Bilder und Vorstellungen konstituiert, ohne dass sie deshalb göttlich ist (s. dazu die bereits zitierten Aussagen M.Bubers).

"Der gewagte existentielle Zweifel ist...Ausdruck des Glaubens, eines lebendigen Glaubens, der auf dem Weg ist von einer Gewißheit zur anderen" (Frambach, a.a.O., s.374). So kommt es also, dass Erfahrung immer beides ist und auch sein muss: theoriegeleitet und theoriekritisch, man könnte auch formulieren: bild-geleitet und bild-hinterfragend. Erfahrung "ist immer durch eine bestimmte theoretische Perspektive und sprachliche Vermittlung geprägt und ermöglicht und hat andererseits die Tendenz, den bisherigen theoretischen Verständnisrahmen zu überschreiten und in Frage zu stellen. Ihr eignet ein anarchisches Element, das sich gegen ein glattes, problemloses Einfügen in einen vorgefassten bestehenden Theorie-Zusammenhang sperrt und neues theoretisches Verstehen fordert" (Frambach, a.a.O., s.364).



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     3b - Die Ent-Täuschung Martin Luthers

Was nun die Befreiung aus der Paradoxie der dualen Sichtweise anbetrifft, so ist sie konkret eine ganz persönliche und subjektive, das Prinzip der Krise aber allgemein. Die Krise löst das Denken, die Distanz, die Bewußtwerdung aus, schafft die Subjekt-Objekt-Beziehung, die überhaupt erst Auseinandersetzung ermöglicht, die Raum für das Erkennen der eigenen Identitätsfixierung schafft. Was die Methoden anbetrifft, so lässt sich aussagen, dass die die besten sind, die ihre eigene Vorläufigkeit durchscheinen lassen. (Dasselbe lässt sich, nebenbei bemerkt, auch über Lehrer aussagen.)

Die Erfahrung der Ent-Täuschung, der Erkenntnis, der Er-Lösung ist, wie gesagt überindividuell, die konkreten Wege dorthin, die anschließenden Äußerungen darüber subjektiv grundverschieden, was an der unterschiedlichen individuellen Fixierung liegt.

So hatte sich Martin Luther an seine Be-Deutung von göttlicher Gerechtigkeit "festgelaufen", begünstigt durch biographisch Erfahrungen und solche des Zeitgeistes. "Für den Augustinermönch Martinus gab es nur eine mögliche Auffassung dieses Begriffs, nämlich, jene Gerechtigkeit sei der strafende Grimm des göttlichen Zorns" (Frambach, a.a.O., s.237). Schließlich geht ihm die Einseitigkeit seiner Deutung auf:"...da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen zu lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben" (Frambach, a.a.O., s.238) Luther entdeckte noch andere Begriffe in neuer Be-Deutung, die nun ihren Druck- und Einschüchterungscharakter auf ihn verloren hatten wie "Werk Gottes", "Kraft Gottes", "Weisheit Gottes" usw.

Sieht man die Identitätsfixierung, also die zugespitzte duale Sichtweise als Sünde im Sinne von Absonderung an, so läßt sich beobachten, dass die Er-Lösung aus der Sünde, aus der einseitigen Fixierung selbst kommt, gleichsam in ihr verborgen liegt. Im leidenschaftlichen Ringen um das, was unbedingt angeht, ist die Einung, die Lösung aus der einseitigen Perspektive schließlich nicht mehr fern.

Luther gibt sogar eine Erklärung, warum der Mensch sich, unter Umständen lange, so quält: "Gottes Natur ist, dass er aus nichts etwas macht. Darum, wer noch nicht nichts ist, aus dem kann Gott auch nichts machen. Die Menschen aber machen aus etwas ein anderes. Das ist aber eitel unnütz Werk. Darum nimmt Gott nicht auf denn die Verlassenen, macht nicht gesund denn die Kranken, macht nicht sehend denn die Blinden, macht nicht lebend denn die Toten, macht fromm denn die Sünder, macht nicht weise denn die Unweisen, kurz, erbarmt sich nicht denn der Elenden, und gibt nicht Gnade denn denen, die in Ungnade sind" (Frambach, a.a.O., s.241).

Es kann also nicht darum gehen, nur passiv auf irgendeine abstrakte Gnade zu warten, sondern der Weg zur Erlösung in der Leere ist ein schmerzhafter, höchst aktiver und engagierter!

Ich halte auch nicht viel von der gut gemeinten Aufforderung zum Loslassen jeglicher Fixierungen. Was einen wirklich existentiell angeht, läßt man nicht aufgrund prinzipieller Einsicht los. Der Weg führt durch die Krise auf eine höhere Verstehensebene. In der Verstehenskrise werden alle menschlichen Kriterien von Gut und Böse außer Kraft gesetzt und paradox.

Luther:"So, wenn Gott lebendig macht, tut er dies dadurch, dass er tötet; wenn er rechtfertigt, tut er dies dadurch, dass er schuldig macht; wenn er zum Himmel emporhebt, tut er es dadurch, dass er zur Hölle führt...So verbirgt er seine ewige Güte und Barmherzigkeit unter ewigem Zorn, seine Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit" (Frambach, a.a.O., s.251).
Was taugen also alle Bilder, Vorstellungen und Identifikationen in der eigenen existentiellen Krise? Um sie zu lösen, offensichtlich nichts!

Helfen kann allenfalls die Vorstellung der prinzipiellen Vorläufigkeit aller Konkretion, letztlich auch die Relativität des eigenen Lebens, mit der eigenen Be-Deutungslosigkeit zu leben, bis sich eine neue Deutung, eine neue Verstehensebene ergibt. Unter anderem gilt es, die Hybris der Aufklärung, wonach prinzipiell alles der menschIichen Vernunft zugänglich sei, zu überwinden.
"Die überpolare Absolutheit des göttlichen Urseins ist mit der Egozentrik eines erkennenden Ich nicht vereinbar. Gott ist kein Objekt, das dem erkennenden Subjekt Ich polar gegenübersteht. Die Weise, in der die überpolare Wirklichkeit Gottes erfahren und erkannt wird, muss die gewohnte Subjekt/Objekt-Struktur des gegenständlichen Existierens und Erkennens transzendieren... Im Rahmen der polar bedingten Existenz- und Wahrnehmungsweise ist der befreiende Schritt nicht möglich... Das Absolute, das Eine, das ohne Zweites ... ist, kann von unserem, in polare Gegensätze unterscheidenden Intellekt nicht ohne einen unvereinbaren Widerspruch gedacht werden. Er repräsentiert auf Iogische Ebene das Hindernis, das uns im polaren Raum einschließt und den Zugang zur überpolaren Wirklichkeit Gottes versperrt" (Frambach,a.a.O., s.314/315).




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     4. Befreiung von Bildern - Befreiung durch Bilder

Nachdem nun hinreichend das totale Erfassen von Wirklichkeit durch Bilder und Vorstellungen in Frage gestellt wurde, soll noch mal auf die positive Seite von Bildern und Vorstellungen, nämlich als Lebenshilfe eingegangen werden. Denn die Konkretion ist ja notwendig, um Teil-Wirklichkeit überhaupt lebendig, aus dem Indifferenten hervortreten zu lassen. Je reicher und vielfältiger die Bilder und Formulierungen sind, desto mehr werden sie sich eben dieser (religiösen) Wirklichkeit annähern. "Die (Gottes)wahrheit ist die (Gottes)suche" (Erich Zenger).

Das semitisch-orientalische Denken will generell nicht definieren, abgrenzen, sondern ein Ereignis, eine Erfahrung von allen Seiten beleuchten. Vielfältige Bilder eignen sich dazu hervorragend. Genau diese Vielfalt an Bildern und Vergleichen finden wir im Ersten Testament. Das Reden in scheinbaren Widersprüchen, Paradoxien, beabsichtigt, möglichst viele Aspekte auf diese Weise zu erfassen.

Bilder sind auch dazu da, um Erwartungen aus den bereits gemachten Erfahrungen heraus zu formulieren, um Gott und sein Handeln sich erneut einzu-bilden, sich zu vergegenwärtigen, so dass Gottes prinzipielles Handeln Gestalt annimmt. Der Beziehungsaspekt ist hier ausschlaggebend. Gott lebt nicht wie die "alten" Götter in einem Götterhimmel, sondern unter den Menschen.

Dennoch ist neben dem Beziehungsaspekt auch die Identitätsebene, die Seinsebene, die der Mensch nicht von sich aus durch Tun verändern kann, im Ersten Testament gegenwärtig, beispielsweise in der Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok. Jakob wird durch den Kampf verwandelt und sieht anschließend neu im Antlitz seines Bruders Esau das Angesicht Gottes. Seine Beziehungsebene verändert sich also durch sein neues Sein.

Historisch lässt sich feststellen, dass ab dem 2.Jahrhundert Gott entfernt von den  Menschen erlebt und gesehen wird. Mittler werden nötig, z.B. Engel. Der Mittler für das Böse ist der Teufel, der Gott des "Alten" Testamentes erscheint als ein anderer als der des "Neuen". Das dualisierte Gottesbild kann m.E. als eine der Wurzeln des Antijudaismus angesehen erden. Es korrespondiert stark mit der Ego-Fixierung der damaligen Kirche, "sich als das wahre Israel" , in dem die Geschichte Gottes mit Israel an ihr immer schon intendiertes Ziel gelangt sei" (E.Zenger, Am Fuß des Sinai", s.7), zu definieren.
 

Den Aspekt des geschichtlichen Handelns Gottes mit dem prinzipiellen zu konfrontieren, ist in seinem Ergebnis besonders spannend. "Das griechische Wort arche, das wir mit "Anfang" übersetzen, meint zunächst den zeitlichen Anfang im Sinne des lateinischen "initium". (Anm.d.Verf.: Es geht hier um den Anfang des Markusevangeliums) Dies ist sehr wichtig: Das Evangelium von Jesus hat einen geschichtlichen Ort. Es vollzieht sich in der Zeit, und insofern es einen Anfang setzt, wird durch das Evangelium auch ein Ende gesetzt.

Mit dem Wort Anfang ist aber vor allem gesagt, dass der Anfang des Evangeliums Grundlegung und Prinzip der Geschichte ist, also ein Anfang im Sinne des lateinischen principium" (E.Zenger, a.a.O., s.39). Es handelt sich also gewissermaßen um einen doppelt zu deutenden Anfang, einen geschichtlichen und einen prinzipiellen.

Das überzeitliche, prinzipielle Handeln Gottes, das man neutestamentlich mit "Immanuel"-Ich bin (für euch) da, namentlich konkretisieren könnte, hat einen geschichtlichen Kontext, in welchem es wieder aufs neue, aber in anderen Konkretionen sichtbar wird. Das Heilige wird im Geschichtlichen immer wieder sichtbar. Das wertet nicht die Bedeutung des einzelnen geschichtlichen Ereignisses ab, stellt es aber in den Zusammenhang mit früheren bzw. nachfolgenden Ereignissen. Es relativiert lediglich die historische Einzigartigkeit des Heiligen und damit auch die meist behauptete Einzigartigkeit eines einzelnen Religionssystems.

Das vorrangige Problem der jungen christlichen Kirche war, Tod und Auferstehung Jesu von der vorhandenen heiligen Schrift her, was natürlich die jüdische war, zu interpretieren und von diesem Kontext her zu erklären. Die junge Gemeinde wollte noch nicht die bessere, klügere, weisere gegenüber der alten sein.

Zum biblischen Bilderverbot angesichts der Fülle der Bildrede im ersten, "alten" Testament äußert sich Zenger so: "Weil es die Anbetung von Kultbildern und Kultsymbolen, die Gott darstellen oder gegenwärtig setzen sollen ("es opere operato"), verhindern will, verbietet es deren Anfertigung; ...eine randscharfe, konkrete, statische Festschreibung Gottes soll es nicht geben...Das Bilderverbot schützt auch die biblischen Bildreden von Gott vor der Perversion in Irrbilder und Trugbilder einer Pseudoreligiosität und Polymythie, in denen der Mensch in den Bildern von Gott entweder nur sich selbst findet oder gar sich selbst in und an diese Bilder verliert, geblendet vom schönen Schein der Bilder oder erschlagen von ihrer Wucht...Fragt man, wie beides zusammengeht (Bilderverbot und Fülle der Bilder, Anmerk.d.Verf.), so bemerkt man, dass das theologische Gewicht beim Bilderverbot nicht auf dem Bild, sondern auf dem Machen liegt. Es geht um die Differenz zwischen Bildern, die man herstellt und Bildern, die sich einstellen" (E.Zenger, a.a.O., s.88ff.).
 

Das Bilderverbot schützt die Gottesbilder vor dem Projektionsverdacht. Das Hören ist im übrigen in der Menschheitsgeschichte archaischer als das Sehen. Bildersehen ist ein mentaler Vorgang und damit objekthaft, objekt-iv. So erklärt sich, dass Mose das Bild des brennenden Dornbusches be-greift, als er die Gottesworte hört, dem Volk werden aber lediglich die Worte als das Wichtigere überbracht. "Die biblischen Bilder von Gott werden erst wahr, wenn die Geschichten erzählt werden, die mit ihnen verbunden sind und denen sie dienen...

Die Bilder haben nur eine relative und situative Wahrheit. Sie sind bezogen auf konkrete Menschen und konkrete Kontexte...Bilder, die in bestimmten Situationen wahr sind, sind dies in anderen Situationen nur bedingt oder überhaupt nicht" (E.Zenger, a.a.O., s.96ff.).

Man sieht aus den Aussagen Zengers, dass die konkreten, und damit polaren Bilder des Ersten Testaments keine umfassende, ewige Wahrheit abbilden wollen und auch nicht sollen. Es sind vorläufige Bilder, was ihre Bedeutung nicht herabsetzt. Sie sind situativ zu verstehen und nicht Besitz, mit dem Erfahrungen des Heiligen ein für allemal festgeschrieben wird.

In Israel und in Ägypten gilt das Herz als die zentrale Stelle, durch die Gott "gehört" wird und durch die Gott den Menschen "einwohnt". Im Hören auf Gott kommt der Mensch zu sich selbst, erfährt seine eigentliche Identität. "Die spezifische Gefährdung der Religion - nicht nur der christlichen - ist es, über der Ausrichtung an Idealen den Bezug zu den weit weniger idealen Fakten des Lebens zu verlieren und diese zu ignorieren" (Frambach, a.a.O., s.376). Dieser Gefahr ist das Erste Testament, die jüdische Bibel, durch die strikte Orientierung an Erfahrung und Erinnerung entgangen.



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     5.  Die 5 Weltreligionen (nach Glasenapp) und ihre polare Sichtweise,
               erkennbar an ihrer gegenseitigen Kritik

Wie sehr die polare Sichtweise zur Abgrenzung und zur Absicherung der eigenen Identitätsfixierung dient, wird signifikant deutlich an der gegenseitigen Kritik der Religionsanhänger untereinander. Gleichzeitig zeigen die Religionen durch die Art dieser Kritik die eigenen Strukturen spiegelartig auf.

Leider wird die Begegnung; mit den anderen Religionen nicht dazu benutzt, den eigenen Teilausschnitt zu  ergänzen, zu bereichern neu zu sehen, wie dies in  interreligiösen Erziehungskonzepten erträumt wird. Im Gegenteil, der eigene Pol wird als "das Wahre" verabsolutiert und die andere Sichtweise von Wirklichkeit als negativ beurteilt.

Vorrangig erhebt das Christentum den Anspruch, im Besitz absoluter Wahrheit zu sein, ungeachtet der vielen Unterkirchen des Christentuns, die im Laufe der historischen Entwicklung entstanden und selbstverständlich alle im Besitz der alleinigen Wahrheit sind.

Der vergleichende Religionswissenschaftler Glasenapp führt dazu aus, dass die Ursache dazu zum einen darin begründet sei, dass das Christentum zu den Religionen der geschichtlichen Gottesoffenbarung gehöre, also von einem linearen Zeitbegriff ausginge mit einem einzigartigen historischen Ereignis, quasi dem Gründungsgeschehen, das vorher und nachher ohne gleichwertiges historisches Ereignis sei.

Allerdings beginnt der Absolutheitsanspruch des Christentums seit längerem zu bröckeln, "nachdem das kopernikanische Weltbild die christliche Heilslehre ihres kosmischen Charakters entkleidet hat" (Glasenapp, Die 5 Weltreligionen, s.363) und nachdem der Mensch als die "Krone der Schöpfung" durch sein Handeln an eben dieser Schöpfung immerhin über sich selbst in Gestalt moderner Thehologen, z.B. Dorothee Sölle, zum Nachdenken gekommen ist. Jedenfalls hat "keine Religion auf Erden... so viele dogmatische Kämpfe und Glaubenskriege aufzuweisen wie das Christentum" (Glasenapp, a.a.O., s.362).

Mehr und mehr scheint nun aber die Überzeugung widerlegt zu sein, "dass das Christentum in irgendeiner Gestalt mehr sein könne als die den Menschen eines begrenzten Raumes und einer begrenzten Zeitperiode adäquate Ausdrucksform metaphysischer Anschauungen" (Glasenapp, a.a.O., s.363).

Die historische Perspektive des Christentums wird nun zum Maßstab der Beurteilung von metaphysischen Erfahrungen anderer Völker. So wird der unhistorische Sinn der Hindus von Christen (und Moslems gleichermaßen) kritisiert und ihre Fähigkeit, das Unsagbare in Mythen darzustellen, erscheint aus der Perspektive der Aufklärung als (negativ zu bewertendes) Märchenerzählen. Ihre sexuellen Mythen und Riten, für Hindus schöne und adäquate Sinnbilder der göttlichen Schöpfungskraft in der Natur, sind für Christen und Moslems zum Teil obszön.

In der Abgrenzung = Begrenztheit wird das Einzigartige gesehen. Viele Buddhisten betrachten ihre Lehre als die vollkommenste, weil sie auf eine Fülle von Glaubenshypothesen verzichtet, welche in anderen Religionen eine große Bedeutung haben, obwohl sie unbeweisbar sind und nur im metaphysischen Denken des Menschen ihren Ursprung haben.
"... Die Religion des Buddha befasste sich nicht mit einem ersten Anfang, den sie nicht ergründen konnte, umging die Tätigkeit einer Gottheit, die sie nicht wahrnehmen konnte, und ließ das Problem, welches sie nicht lösen konnte, die letzte Belohnung des Vollkommenen, der endlosen Diskussion offen. (Glasenapp, a.a.O., s.422).
Das Christentum betrachtet hingegen gerade diese Glaubenshypothesen, das Heilsgeschehen in Christus, die Behauptung eines Schöpfergottes und die Erlösung vom Tod als seine Basis und kritisiert am Buddhismus genau das Fehlen eines personalen Gegenübers, andererseits die Weltentsagung, sowie die Nivellierung des Wesensunterschiedes zwischen Mensch und Tier durch die Lehre der Wiederverkörperung. Dies sei als eine Entwürdigung des Menschen anzusehen.


"Die Chinesen betrachten den Konfuzianismus als eine Morallehre, die allen Glaubensreligionen überlegen ist, weil sie den erhabenen Grundsatz von Ehre und Pflicht aufstellt, ohne an transzendentale Mächte zu appellieren" (a.a.O., s.425).

Den Christen werfen sie vor, dass es ihnen in 2000 Jahren nicht gelungen sei, ein Staatswesen aufzubauen, das die christlichen Wertorientierungen wiederspiegele.

"Der Wert der Religion ist es, dass sie die Menschen, sogar die große Masse, die weder Verstandeskraft noch Charakterstärke hat, zu moralischer Lebensführung befähigt und veranlasst. Mit welchen Mitteln tut sie das? Die Leute glauben irrtümlich, dieses Mittel sei der Glaube an Gott. Aber die einzige, alleinige Autorität, die die Menschen wirklich zur Befolgung der Sittengesetze veranlasst, ist das Moralgefühl, das Gesetz für den Ehrenmann in ihnen. Konfuzius sagt: Ein Moralgesetz außerhalb des Menschen ist kein Moralgesetz" (a.a.O., s.425).
Auch so kann das "Reich Gottes" auf Erden offensichtlich anfangen, aber wohl nur in Gesellschaften, wo die psychische Wechselbeziehung Kollektiv-Individuum noch intakt ist. "Die europäische Religion sagt: Sei ein guter Mensch. Aber die chinesische Religion sagt: Sei ein guter Mensch mit gutem Geschmack. Diese Religion der Gerechtigkeit mit gutem Geschmack, die ich die Religion des guten Bürgers genannt habe, ist die neue Religion, die die Völker Europas brauchen, nicht nur, um den Krieg zu beenden, sondern auch, um die Zivilisation zu retten" (a.a.O., s.425). "Jesus erscheint... als ein jüdischer Lokalprophet mit bäuerlicher Redeweise und ohne Einsicht in die verwickelten Probleme eines hochentwickelten Staates" (a.a.O., s.434). Der Konfuzianismus habe jedenfalls die Grundbeziehungen des Menschen besser herausgearbeitet als das Christentum.

Dem Konfuzianismus wurde nun seinerseits von den anderen Religionen mangelnde transzendentale Orientierung vorgeworfen. Religion habe über die zeitbegrenzte irdische Ordnung hinauszuweisen. "Ebensowenig erscheint den Bekennern anderer Glaubenslehren der Kult als vorbildlich, den die Chinesen mit ihrer Vergangenheit treiben; für einen moralischen Fortschritt könnten nicht die Normen des Altertums maßgebend sein, sondern nur das Ringen um eine bessere Zukunft" (a.a.O., s.426). Wie relativ, einseitig und subjektiv erscheint eine solche Beurteilung beispielsweise im Blick auf das Judentum, das durch Erinnerungsbilder und -geschichten eben gerade Hoffnung und Kraft für die Zukunft gewann.

"Die Toleranz der Chinesen gegenüber den verschiedenen Religionen des weiten Reiches ist von christlicher Seite bereits im l4.Jahrhundert verurteilt worden. Im Januar 1392 schrieb nämlich der Bischof von Zeitun in China, Andreas von Perugia, an sein Franziskaner-Mutterkloster in Perugia: Sie (die Chinesen) hegen die Meinung oder richtiger die irrige Ansicht, dass ein jeder in seiner eigenen Religion selig werden kann" (a.a.O., s.429).


In der Fixierung auf ein bestimmtes geschichtliches Ereignis, nämlich dass "Gott Mensch wurde", dass ein "unmittelbarer" Eingriff Gottes in die geschichtliche Wirklichkeit stattfand, hierin fühlen sich die Christen den Natur- und Kulturreligionen überlegen. Das Christentum gilt seinen Bekennern als die einzige "übernatürliche" Religion. "In Christus sei der Geist Gottes vollkommen erschienen, wie er überhaupt auf Erden in Raum und Zeit nur erscheinen kann" (a.a.O., s.429).

Die Religionen "des ewigen Weltgesetzes" (Glasenapp) halten es dagegen für vernünftiger, anzunehmen, "dass Gott sich in allen großen Meistern, in allen Ländern und zu allen Zeiten immer erneut geoffenbart hat" (a.a.O., s.430). "Die Hindus erkennen deshalb Christus als Inkarnation Gottes und die Bibel als eine Offenbarungsschrift an, finden es aber beschränkt und engherzig von den Christen, dass sie die brahmanischen Heiligen und religiösen Schriften nicht als göttlicher Herkunft ansehen wollen" (a.a.O., s.430).

Der geistige Gehalt der Bergpredigt wurde von dem Buddhisten Gandhi hochgeschätzt, ohne dass er deswegen auf die Idee kam, konvertieren zu müssen, um gerettet zu werden.

Das Essen von Rindfleisch und das Trinken berauschender Getränke wird von Hindus höchst kritisch gesehen, ebenso die Behauptung, dass Tiere und Pflanzen nicht beseelt seien. Die Austreibung der bösen Geister in die unschuldigen Schweine (Matth.8,30) und die Verfluchung des Feigenbaums (Matth. 21,19) rufen ihre Entrüstung hervor. "Vor allem aber sehen sie menschliche Überheblichkeit darin, dass die Tiere ihren einzigen Daseinszweck darin haben sollen, von Menschen gefangen und geschlachtet zu werden (2 Petr. 2,12)" (a.a.O., s.432).

Die Buddhisten bewundern an der Ethik der Bergpredigt ebenfalls die Übereinstimmung mit den Lehren Buddhas. "Sie sehen Jesus jedoch nicht als einen Buddha, sondern als einen auf dem Wege der Vollendung fortschreitenden Bodhisattva an, weil er noch nicht von aller Leidenschaft frei war" (a.a.O., s.433). Die Wirklichkeit der leidenden Welt, das immer fortdauernde Leiden der Menschen, sowie die Vorstellung, dass Gott die Übeltäter hasse und auf seine Selbstverherrlichung bedacht sei... sei eines höchsten Wesens unwürdig" (a.a.O., s.432).

Die Verbindung von Weltschöpfer, Weltrichter und allwissendem, allerbarmendem Gnadenspender von höchster moralischer Vollkommenheit ist für Buddhisten paradox, nicht schlüssig. Die Blut- und Wunden-Theologie verträgt sich nicht mit ihrer Abscheu vor blutigen Opfern als etwas an sich Unreines. Angemessene Opfer wären Blumen und Früchte. Das Leiden ist für sie das Übel, das mit aller Existenz verbunden ist. Aus ihm kann keine "Erlösung" kommen.
 

Der französische Schriftsteller Andre' Gide berichtet von einem Chinesen, der in Europa auf allen Gesichtern  hauptsächlich Müdigkeit, Trauer und Sorge gesehen habe. Wir kennten alle Künste, außer der einfachen, glücklich zu sein. Überall seien Sitten und Einrichtungen nach dem Glauben zugeschnitten - nur bei den christlichen Völkern nicht.

"Der Islam ist für die Mohammedaner die beste Religion, weil sie die einfachste ist" (a.a.O., s.437). In der Tat besteht die Lehre Mohammeds lediglich aus einem Glaubensartikel: Gott ist der einzige und ewige Gott. Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt, und kein Wesen ist ihm gleich.

Aus der Logik dieses Glaubensartikels geht folgerichtig hervor, dass der Religionsstifter Mohammed an den Christen ihre Glaubensaussage, Gott habe einen Sohn gezeugt, kritisierte. Dennoch gesteht Mohammed Jesus innerhalb der Reihe der Propheten eine Ausnahmestellung zu: die Jungfrauengeburt und eine reiche Anzahl von Wundern. Bei ihm stirbt er nicht durch Kreuzigung, wird aber von Gott erhoben und wird bei der allgemeinen Auferstehung als Zeuge für die Gläubigen auftreten.

Entsprechend sehen die Moslems "Christus als einen Propheten, der auch den Glauben an den wahren Gott gelehrt hat, dessen Anhänger aber seine reine Lehre entstellt haben" (a.a.O., s.436). Der Kampf der vielen christlichen Richtungen wird als eine Folge davon interpretiert, dass sie die Wahrheit außer acht ließen. "Dadurch, dass die Gebote des Islam leicht zu befolgen sind, ist er allen anderen Religionen gegenüber im Vorteil; daraus erklärt sich die gewaltige Werbekraft, die er heute noch in Afrika entfaltet" (a.a.O., s.437).

Keine andere Religion war in gleich hohem Maße in der Lage, "ihren Bekennern einen gemeinsamen Charakter aufzuprägen, der alle Unterschiede von Herkunft und Volkstum in den Hintergrund drängt... Die Anhänger der anderen Religionen wenden gegen den Islam ein, dass er zu leicht sei und von seinen Bekennern zu wenig fordere. Die Hindus verurteilen an ihm vor allem seine Nichtbeachtung der ihnen heiligen rituellen und sozialen Bräuche (Tötung von Kühen, Wiederverheiratung der Witwen), während die Buddhisten und Chinesen seinen fanatischen Monotheismus ablehnen" (a.a.O., s.438).



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     6.  Rückblickende Betrachtungen
 

Das Prinzip, die eigene Identitätsbildung, wie sie sich in der Religion spiegelt, zu verabsolutieren und die jeweils andere abzulehnen, eben in dem anderen  etwas Negatives und nicht das dem eigenen eventuell Fehlende zu sehen, wurde, glaube ich, hinreichend deutlich. Es zeigt sich das die Akzeptanz neben der Ablehung von befremdlichen Sitten und Gebräuchen vor allem  bei der Begegnung mit der Paradoxie endet. Logisch-mentale Systeme "Leben" eben davon, Widersprüche auszuschließen, und zwar offensichtlich auch in Asien. Dazu sind sie da.

Das Geheimnis der Identitätsbildung läßt sich nicht total objekt-ivieren. Das, was vorläufige Identität in diesem Leben konstituiert hat, läßt sich nur begrenzt mental vor-stellen. Es ging in dieser Arbeit u.a. darum, die prinzipielle Begrenztheit der polaren Sichtweise, die mit der Ich-Bildung eng zusammenhängt, deutlich zu machen und damit die Verabsolutierung von konkreten Vorstellungen und Interpretationen über das Diesseitige und das Transzendentale stark in Frage zu stellen.

Hand in Hand damit geht der Irrtum, ein für alle Mal zu wissen, was "gut" ist und was "böse", und dies als ewige Lehre formulieren zu können.

"Die Gewähr für die Richtigkeit ihrer eigenen Ansichten finden die streitbaren Vertreter einer bestimmten Lehrmeinung darin, dass sie für sich das rechte Vermögen zwischen dem Richtigen und dem Falschen zu unterscheiden, in Anspruch nehmen und dieses ihrem Gegner absprechen" (Glasenapp, a.a.O., s.448).

Jesus hat seine Beurteilung dessen, was gut und böse ist, einerseits von der Situation abhängig gemacht, also relativiert ,(Ährenausraufen und Heilung am Sabbat), andererseits offenbar bestehende "Buchstaben-Orientierungen" verschärft, radikalisiert (Aussagen zu Auflösung des Gesetzes, Interpretation von Töten, von Ehebruch, von Schwören, über Feindesliebe). Offensichtlich ist der Geist der Unterscheidung aus Korinther 12 der systematischen Lehre durchaus überlegen.

Die Erfahrung der Transzendenz im Diesseits gehört zu den menschlichen Urerfahrungen in allen Kulturen und kann nicht als Spekulation zugunsten einer reinen Ethiklehre abgetan werden. Es muss Interpretationen subjektiver oder kollektiver Erfahrungen über beide Sphären geben, unabhängig davon, ob sie in der Außen oder der Innenwelt des Menschen stattgefunden haben, das mindert nicht ihren Wert.

Sie sollen Auswirkungen haben auf  das folgende Leben und Handeln, dazu sind sie da. Der Wert einer Interpretation richtet sich trotz allem paradoxerweise nach dem Maß ihrer Umfassenheit. "Höhe  und Wert aller Erkenntnis bestimmt sich nach dem Grade der Breite, mit der sie die Mannigfaltigkeit der Phänomene umfasst, und der Tiefe, mit der sie bis zu den Hintergründen vorzudringen vermag" (Glasenapp, a.a.O., s.454). Solange der einzelne lebt, solange die Menschheit existiert, wird der Erkenntnisprozess, auch bezüglich Religion und die Korrektur  der Lehre daraus weitergehen.

Religionen, deren Kernaussagen sich auf die Transzendenz beziehen, müssen sich fragen lassen inwieweit Aussagen im Hier-und-Jetzt Konsequenzen haben und erfahrbar sind. Was würde dem Dasein fehlen ohne diese Aussagen? Keine Religion hat einen"Exklusivvertrag"  mit dem Transzendentalen. Daher hat der Satz Jesu "an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" seine Gültigkeit bis heute nicht verloren, ohne dass damit einer reinen Ethiklehre das Wort geredet werden soll.

Was die Toleranz anbetrifft, so läßt sich beobachten, dass Religionen, die von einem zirkulären Zeitbegriff ausgehen (statt von einem historisch-linearen) sich leichter tun, heilige Ereignisse und Personen aus anderen Religionen als gleichwertig, gleichberechtigt zu akzeptieren. In jedem Falle findet die Unduldsamkeit dort statt, wo die Identitätsbildung ihrem Schwerpunkt hat, in den sozialen Ordnungen oder in der dogmatischen Lehre.

Wie unsere Wertungen vor unseren Augen relativiert werden können, findet sich bei all ihrer individuellen Unterschiedlichkeit bei den Mystikern. Der evangelische Jakob Böhme stieß auf den Widerspruch von Gut und Böse, von Licht und Finsternis und kam zu der erschreckenden Erkenntnis, dass sie in Gott selbst ihren Grund und Ungrund haben. "Er tritt aus seinen Finsternissen hervor und zwar nicht als jener verharmloste Bilderbuch "Gott", der keinem etwas anhaben könnte, sondern vielmehr als der Inbegriff des Zorns wie der umfassenden Liebe, wie er erst durch das Gesamtzeugnis Alten und Neuen Testaments als der "lebendige Gott" Gestalt gewinnt. Dieser Gott schenkt sich dem Menschen, ohne sich preiszugeben" (Einleitung s.12, Gerhard Wehr zu "Vom übersinnlichen Leben").
 

So läßt sich abschließend und zusammenfassend feststellen, dass Gott im irdischen Dasein, das das polare Denken impliziert, eben diesem Denken als der "ganz Andere", eben überpolare begegnet. Dies sich allzeit und immer aufs Neue zu vergegenwärtigen, ist wesentlich, um Grenzerfahrungen zu begegnen und zu bewältigen.



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      Literatur
 

Martin Buber "Bilder von Gut und Böse", Vlg.Lambert Schneider, 1986

Ludwig Frambach "Identität und Befreiung", Vlg.Via Nova, Petersberg, 1994

Erich Zenger "Am Fuß des Sinai", Patmos Vlg., 1994

Mircea Eliade "Die Religionen und das Heilige", Insel Vlg.,1998

Peter Biel "Symbole geben zu Iernen II", Neukirchener Vlg.,1993

Bruno Borchert "Mystik", Vlg.H.Köster, Königstein 1994

Helmuth von Glasenapp "Die fünf Weltreligionen" Heyne Vlg.1993

Jakob Böhme "Vom übersinnlichen Leben", Ogham Vlg.1986

Calwer Bibellexikon, 6.Aufl.Stuttgart 1989

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv 4.Auflage 1999
 
 
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